Vergeben, vergessen, befördert?
Warum Moral in der Politik zur Verhandlungsmasse geworden ist
In der Politik scheint Rücktritt selten das Ende – und häufig nur der Beginn eines neuen Abschnitts.
Aktuelles Beispiel:
Anne Spiegel, ehemalige Bundesfamilienministerin, wird als neue Sozialdezernentin für die Region Hannover vorgeschlagen.
Die Personalie kommt nicht zufällig – sondern ausgerechnet von Steffen Krach, dem SPD-Regionspräsidenten, der selbst wegen Führungsentscheidungen in der Kritik steht.
Die Frage, die sich vielen stellt: Ist diese Art der Rückkehr politisch legitim – und moralisch vertretbar?
Vier Jahre nach der Flut – die offene Wunde
Am 14. und 15. Juli 2021 wurde das Ahrtal von einer der schwersten Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik getroffen.
135 Menschen verloren ihr Leben. Das Ahrtal wurde auf 40 Kilometern Länge verwüstet. 40.000 Menschen verloren ihr Zuhause, viele ihre komplette Existenz.2,3
Als damalige Umweltministerin war Anne Spiegel Teil des rheinland-pfälzischen Kabinetts.
Laut Untersuchungsausschuss war ihr Ministerium »nicht Teil der Meldekette«2 – eine Formulierung, die sich auf eine Stellungnahme von Spiegel selbst bezieht.
Kritiker werfen ihr jedoch vor, als Teil des Krisenmanagements frühzeitige Warnungen nicht ausreichend beachtet oder weitergegeben zu haben.
Warnungen, Urlaub und Wirkungslücke
Am 13. Juli 2021 informierte Anne Spiegel das Kabinett über bevorstehenden Starkregen – allerdings bezogen sich die Warnungen auf Rhein und Mosel.
Die Ahr wurde nicht erwähnt, obwohl das europäische Warnsystem EFAS bereits Hinweise auf eine mögliche Sturzflut gab.3
Am Mittag des 14. Juli berechnete das Landesamt für Umwelt in Mainz bedrohliche Pegelwerte für die Ahr. Dennoch veröffentlichte das Ministerium um 17:40 Uhr eine Pressemitteilung, wonach ein Extremhochwasser »nicht zu erwarten« sei.2,3
Kritisiert wird auch, dass Spiegel in der Flutnacht stundenlang nicht erreichbar gewesen sei.
Der Untersuchungsausschuss warf ihr vor, dass weder Warnungen noch dramatische Berichte aus dem Ahrtal angemessen weitergeleitet wurden. Die notwendige Bevölkerungswarnung oder koordinierte Evakuierungsmaßnahmen blieben laut Bericht aus3.
Außerdem trat Spiegel wenige Tage nach der Katastrophe, laut mehreren Medienberichten, eine mehrwöchige Urlaubsreise nach Frankreich an. Ein Umstand, der später ebenso für breite Kritik sorgte2,3.
Die Reise wurde weder parteiintern noch öffentlich kommuniziert. Laut Berichten verschwieg Spiegel sie sogar gegenüber ihrer eigenen Partei und ließ durchblicken, sie nehme weiterhin an Kabinettssitzungen teil.
Rücktritt als Brücke zum neuen Amt?
Gut drei Jahre später wird nun ihre Rückkehr in ein bedeutendes Verwaltungsamt vorbereitet. In einem Interview erklärte sie, ihr sei »bewusst, dass [sie] mit Gegenwind starte«4.
Doch es geht längst nicht mehr nur um die Personalie Spiegel.
Darf politische Verantwortung einfach ruhen – und wieder aufgenommen werden, wenn die Wellen sich geglättet haben?
Gerade bei einer Katastrophe, deren Folgen bis heute sichtbar sind, empfinden viele Bürger eine Rückkehr in Amt und Würden als verfrüht, ja gar unangemessen. Aufarbeitung, so scheint es, wurde durch Zeit ersetzt.
Steffen Krach – Kritik auf mehreren Ebenen
Der Vorschlag stammt von Steffen Krach, SPD-Regionspräsident seit 20216.
Auch er steht in der Region Hannover regelmäßig in der Kritik.
Etwa wegen der heftig diskutierten Schließung des Klinikums Lehrte. Oder umstrittener Auftragsvergaben innerhalb der Verwaltung.
Sowie wegen weiterer umstrittener Vorgänge. So wurde etwa eine Debatte um die Annahme eines Hannover-96-Trikots im Mai 2022 öffentlich1, da bis dahin keine klare Regelung für Geschenke an den Regionspräsidenten existierte.
Erst nachträglich wurde die Obergrenze für Präsente auf 80 Euro festgelegt – eine Entscheidung, die in der Regionsversammlung kontrovers diskutiert wurde.
Zum Vergleich: Für normale Amtsträger im öffentlichen Dienst gilt in Niedersachsen eine Grenze von 10 Euro.
Die Tatsache, dass er Anne Spiegel zur Seite holen will, wird daher von politischen Beobachtern als strategischer Schritt gesehen. Möglicherweise aber auch als Ausdruck eines Systems, das interne Loyalitäten höher bewertet als öffentliche Wahrnehmung oder moralische Aufarbeitung.
Moral als Option – nicht als Grundlage?
Die genannten Fälle werfen eine größere Frage auf. Welche Rolle spielt moralisches Handeln in der heutigen Politik?
Rücktritte erfolgen häufig unter öffentlichem Druck – nicht aufgrund innerer Einsicht. Eine systematische Aufarbeitung, die auch institutionelle Lehren zieht, bleibt meist aus.
Stattdessen scheint die Devise zu lauten: einige Monate abtauchen – dann weiter machen.
Vertrauen in Politik entsteht aber nicht durch Vergessen. – Sondern durch Transparenz und Konsequenz.
Gerade bei großen Krisen wie der Flutkatastrophe im Ahrtal braucht es sichtbare Zeichen dafür, dass Verantwortung nicht nur temporär gemeint ist.
Schlussgedanke
Politische Verantwortung ist kein Ablaufdatum, das sich durch Zeit von selbst erledigt.
Sie erfordert Reflexion, sichtbare Konsequenzen und vor allem: den Willen zur ehrlichen Aufarbeitung.
Wie sehen Sie das?
Diskutieren Sie mit – wir sind gespannt auf Ihre Meinung.
Quellen:
Fotos:
Quellen (Auswahl):
1 HAZ – Regionspräsident darf Geschenke bis 80 Euro annehmen
2 Mainz& – Trotz Rolle bei Flutkatastrophe: Anne Spiegel soll Sozialdezernentin werden
3 Mainz& – Abschlussbericht zum U-Ausschuss Flutkatastrophe veröffentlicht
4 ZEIT ONLINE – Anne Spiegel: „Mir ist bewusst, dass ich mit Gegenwind starte.“
5 Wikipedia – Anne Spiegel (zu Funktionen und Rücktritt)
6 Wikipedia – Steffen Krach (zu Biografie und politischem Werdegang)
Hinweis: Mehrere Inhalte basieren auf Recherchen und Analysen von Mainz& (www.mainzund.de),
die ihrerseits auf öffentliche Dokumente, Untersuchungsausschüsse und Presseberichte verweisen.
Anmerkung der Redaktion: Für bessere Lesbarkeit verzichten wir in unseren Beiträgen weitestgehend auf geschlechtergerechte Sprache. Mehr dazu