Ein persönliches Erlebnis – und eine Frage, die uns alle angeht
Es war irgendwann 1986 oder 1987, an einem dieser Nachmittage im Mischwald hinter unserem Wohngebiet im Südharz – nur wenige Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt. Für uns Kinder war das einfach Wald. Freiheit. Abenteuer.
Auf einer kleinen Anhöhe fanden wir zwischen Laub und Wurzeln eine getarnte Höhle. Sehr stabil gebaut, sorgfältig abgedeckt – so, als hätten ältere Kinder sie als ihren geheimen Treffpunkt angelegt. Für uns war es ein Versteck.
Erst Jahre später verstand ich, was wir dort wirklich entdeckt hatten. Es war eine militärische Übungsstellung. Sie stammte von den Kampfgruppen der Arbeiterklasse – einer bewaffneten Reserve der DDR, die auch dort trainierte, wo wir Kinder spielten.
Manchmal hörten wir nachts fernes Schießen und Explosionen, und an solchen Tagen war der Wald plötzlich „gesperrt“, wie unsere Eltern sagten. Damals klang das harmlos. Heute weiß ich, was es bedeutete.
Ein stummer Hinweis darauf, wie nah der Kalte Krieg damals war – näher, als Kinder es begreifen konnten.
Diese Erinnerung ist nie verschwunden.
Vielleicht weil sie zeigt, wie leicht Kinder etwas völlig anderes sehen als Erwachsene – und es am Ende für harmlos halten, obwohl darin etwas Gefährliches steckt.
Vielleicht auch, weil sie die Frage aufwirft, wie unmerklich Normalisierung beginnt.
Wenn symbolische Grenzen verschwimmen
Heute begegnen Kindern und Jugendlichen militärische Bilder wieder fast überall – nicht mehr im Wald, sondern mitten im Alltag. Auf Instagram, auf TikTok und in YouTube-Clips erscheinen Werbespots der Bundeswehr zwischen Tanzvideos, Comedy und Gaming-Sequenzen.
Oft nur wenige Sekunden lang, aber dafür perfekt inszeniert: Drohnenaufnahmen, Fahrzeuge, Technik, Action-Sound.
Die Bundeswehr nutzt diese Plattformen inzwischen ganz offiziell für Nachwuchswerbung.
Und die Algorithmen der großen Plattformen verstärken, was häufig angeklickt wird – ganz gleich, ob aus Interesse, Neugier oder Überraschung. So werden schon kurze Clips schnell zu wiederkehrenden, einprägsamen, normalen Bildern.
Für Erwachsene mag das nur ein weiterer »Scroll-Moment« sein.
Für junge Menschen, die täglich sehr viele solcher Mini-Videos konsumieren, entsteht ein ganz anderes Bild:
etwas Spannendes, Beeindruckendes – eine Art „Abenteuerwelt“.
Parallel dazu sind Vertreter der Bundeswehr wieder häufiger an Schulen, bei Ausbildungsmessen und auf Stadtfesten präsent.
Stände mit Ausrüstung, Fahrzeugen oder Simulatoren sind dort längst keine Ausnahme mehr.
Zwischen Feuerwehr, Rettungsdienst und Hüpfburgen wirken sie wie ein weiterer, harmloser Programmpunkt – und genau dadurch verschwinden Abgrenzungen, die eigentlich sehr wichtig wären.
Denn Kinder und Jugendliche sehen keine Strategie, keinen Zweck, keine politische Dimension.
Sie sehen das, was groß, glänzend und stark wirkt.
Und sie lernen unbewusst:
„Wenn Erwachsene es zulassen, wird es schon harmlos sein.“
Normalisierung beginnt selten laut. Oft beginnt sie mit Bildern, die nur vertraut wirken sollen.
Warum Normalisierung so leicht funktioniert
Menschen gewöhnen sich schneller an wiederkehrende Bilder, als ihnen bewusst ist.
Das gilt für Erwachsene – für Kinder aber noch viel stärker.
Wiederholung schafft Vertrautheit, und Vertrautheit fühlt sich automatisch sicher an.
Ein einfacher Mechanismus, im Alltag oft sinnvoll – in Kontexten wie diesem jedoch gefährlich.
Wenn junge Menschen militärische Symbole immer wieder sehen, ohne Erklärung, ohne Einordnung, entsteht ein Gefühl von:
„Das gehört eben dazu.“
Nicht, weil sie es gutheißen, sondern weil ihr Gehirn lernt, dass es normal ist.
So verschieben sich Wahrnehmungen: nicht durch Überzeugung, sondern durch Gewöhnung.
Ein ähnliches Muster zeigt sich in Gesprächen über aktuelle Konflikte.
Zu Beginn hoffen viele noch, „Ach, das geht schnell vorbei“.
Doch oft wird nur wenige Monate später von Aufrüstung, Pflichten und Mobilisierung gesprochen.
Solche Verschiebungen geschehen leise – fast unmerklich, aber grundlegend.
Genau das macht Normalisierung so mächtig.
Sie funktioniert nicht über Argumente, sondern über Wiederholung, Emotionen – und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit.
Gerade Kinder sind dafür besonders empfänglich.
Sie orientieren sich an dem, was Erwachsene zulassen – und an dem, was oft genug vor ihren Augen passiert.
Warum diese Entwicklung uns alle betrifft
Normalisierung bleibt selten ohne Folgen.
Wenn militärische Symbole, Ausrüstung oder Rekrutierungsbotschaften immer öfter Teil des öffentlichen Alltags werden. – Sichtbar auf Social Media, auf Veranstaltungen oder in Schulen. – Verändert sich auch, wie eine Gesellschaft über Frieden, Konflikte und Schutz denkt.
Nicht sofort, nicht laut, aber stetig.
Je vertrauter militärische Bilder wirken, desto geringer wird die innere Distanz zu ihnen.
Was früher eine Ausnahme war, erscheint plötzlich selbstverständlich.
Und je selbstverständlicher etwas wirkt, desto weniger wird es hinterfragt.
Viele Menschen spüren dieses Unbehagen längst. – Aber nur wenige sprechen es aus.
Vielleicht, weil es nicht laut beginnt.
Weil es aussieht wie »nur ein Clip«, »nur ein Stand«, »nur ein Bild«.
Doch Geschichte zeigt, dass gefährliche Entwicklungen selten mit großen Entscheidungen anfangen.
Sie beginnen fast immer mit kleinen Verschiebungen.
Mit Bildern, die harmlos wirken, mit Symbolen, die niemand ernst nimmt, mit Eindrücken, die langsam in den Alltag rutschen.
Gesellschaften driften nicht, weil jemand sie bewusst lenkt – sondern weil niemand die stillen Verschiebungen bemerkt.
Und genau deshalb betrifft dieses Thema nicht nur Eltern oder Jugendliche.
Es betrifft uns alle.
Weil Wahrnehmung nicht in Lehrbüchern entsteht, sondern im Alltag.
Auf Bildschirmen, in Gesprächen, auf Festen, in Schulen.
Dort, wo Eindrücke zu Gewohnheiten werden – und Gewohnheiten zu Haltungen.
„Frieden beginnt nicht in Verträgen oder Verhandlungen – sondern in den Bildern, die wir unseren Kindern zumuten.“
Abschließende Frage an die Leserschaft
Wie wollen wir als Gesellschaft eigentlich mit militärischen Symbolen im Alltag umgehen – besonders dann, wenn Kinder sie sehen?
Nicht als Zustimmung, nicht als Ablehnung gemeint – sondern als ehrliche, offene Frage:
Welche Grenzen wollen wir ziehen, und warum?
Vielleicht ist genau jetzt der richtige Moment, darüber wieder miteinander zu sprechen.
Quellen:
Fotos: Bild von wirestock auf Freepik
Anmerkung der Redaktion: Für bessere Lesbarkeit verzichten wir in unseren Beiträgen weitestgehend auf geschlechtergerechte Sprache. Mehr dazu
