… oder, wenn Optimismus die Dunkelheit besiegt
Ihr kennt bestimmt den Dorfplatz in unserem Lehrter Ortsteil Aligse.
Beim Vorbeifahren mit dem Auto, unübersehbar. Idyllisch, die großen Bäume, das Grün, der Dorfteich mit seinen Seerosen. Seit vielen Jahren bildet der Platz den Mittelpunkt des dörflichen Lebens. In der Vergangenheit diente er nach der Ernte als Dreschplatz, als Verladeplatz für das Gemüse oder als Fußballplatz für die Jugend. Hier wird der Maibaum aufgestellt und zu Pfingsten das Schützenfest gefeiert. Ein Geheimtipp ist der jeweils zum ersten Advent stattfindende Weihnachtsmarkt mit Glühwein, Flammlachs und hochwertigen Handarbeiten.
Seit 1994 trifft man sich hier zum Plauschen und Klönen.
Das Ehrenmahl – Erinnerungsstätte für die gefallenen Soldaten
Neben dem Dorfteich gibt es ein Denkmal für die Gefallenen des 1. und des 2. Weltkriegs.
An einem heißen Sommertag bin ich nun vor Ort. Ich möchte Geschichte atmen und Fotos machen.
Die vielen alten Eichen spenden kühlenden Schatten, im Dorfteich blühen Seerosen. Dann stehe ich vor dem kleinen Jägerzaun mit Pforte, der das Ehrenmal umgibt.
Das stehende Mahnmal trägt die verwitterten Namen von 29 gefallenen Soldaten des 1. Weltkriegs. Es wird eingefasst von zwei längeren Seitenwänden.
Das Blutvergießen zwischen 1939 und 1945 war größer, ich lese sehr viele Namen. Väter und ihre Söhne, Brüder. Vermisste Menschen, die niemals gefunden wurden.
Die seltene Kanone
Technische Daten
Und da steht auch sie, die Kanone von Aligse. Wuchtig, schwer, mit viel Patina. Das Kanonenrohr noch voller Kraft, Blickrichtung Lehrte. Im Jahr 2000 wurde das der Witterung ausgesetzte Geschütz restauriert.
An insgesamt 16 Wochenenden haben 11 Einwohner in 584 Arbeitsstunden das Geschütz generalüberholt. Fast 8.000 DM wurden dafür gesammelt. Ich setze mich auf das Geschütz, so wie es die Kanoniere früher getan haben.
Ein interessierter Bürger hatte sich an das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam und dann an die Gesellschaft für Artilleriekunde in Idar-Oberstein gewandt.
Im erhaltenen Antwortschreiben steht: Da Deutschland nach dem 1. WK aufgrund von Waffenstillstandsabkommen und Versailler Diktat alle Feldgeschütze abliefern musste, stellt Ihre FK 96 n/A eine ausgesprochene Seltenheit dar. Dem Antwortschreiben war neben der Beschreibung der Kanone auch ein Auszug aus dem »Taschenbuch der Artillerie, Band 1, Leichte Feldgeschütze« beigefügt.
Die genaue Bezeichnung unseres Geschützes lautet: 7,7 cm Feldkanone 96 neuer Art, wobei 96 für das Einführungsjahr 1896 steht und die Buchstaben n/A für die überarbeitete Ausführung der Kanone in den Jahren 1904/05 stehen.
Das Geschütz war im 1. Weltkrieg das Hauptgeschütz der Feldartillerie. Es wurde von Krupp und Rheinmetall hergestellt. Bei Kriegsbeginn gab es über 5.000 Stück. Es verschoss Patronenmunition, Granaten und Schrapnelle mit einem Gewicht von 6,85 kg und 465 m/sec Anfangsgeschwindigkeit. Die Schussweite betrug bis zu 7.800 m.
Die unglaubliche Geschichte
Aber wie kam diese Kanone nach Aligse?
Erzählt hat diese Geschichte Heini Ehlvers (Geburtsjahr 1915). Er wiederum hatte sie von seinem Vater erfahren.
Ende Juli 1914 fand in der Gemarkung Aligse ein Manöver statt, an dem auch eine Abteilung der Feldartillerie aus Hannover teilnahm.
Das Biwak der Artillerieabteilung wurde in der Ortsmitte am Teich »Unter den Eichen« errichtet. Nach der Tagesübung feierten die Kanoniere mit der Jugend des Dorfes, wobei wohl viel getrunken wurde.
In der Nacht zum 02.08.1914, zu später Stunde und „mit dickem Kopf“, kamen einige der einheimischen Burschen auf die Schnapsidee, im Dunklen eine Kanone abzutransportieren.
Ackerpferde wurden vorgespannt und ein Geschütz leise weggefahren. Alle Soldaten schliefen, keiner bemerkte etwas.
Versteckt wurde die Kanone unter Stroh in der Buchholzschen Feldscheune am Ende der Ortschaft.
Am. 01.08.1914, 18.00 Uhr, befiehlt der deutsche Kaiser die Mobilmachung.
Dieser Befehl wird die Führung des Manövers wohl erst am Morgen des 02.08.1914 erreicht haben, dem ersten Tag der Mobilmachung und somit dem Beginn des 1. Weltkriegs.
Hals über Kopf zog die Manövereinheit zu ihrem Standort zurück.
Ist dabei das Fehlen der Kanone nicht bemerkt worden oder blieb keine Zeit, sie zu suchen?
Nun hatten die Aligser eine Kanone, die keiner sehen durfte. So blieb sie bis nach Kriegsende in der Feldscheune versteckt stehen. Die Geschichte ist so rührend. Sie muss stimmen.
Es gibt noch zwei andere Erzählvarianten, die bestimmt im Laufe der kommenden Menschenleben vergessen werden. In einer wird erzählt, dass ein Kriegsrückkehrer nach Kriegsende die Kanone in Hannover gekauft und dann in Aligse vor der Verschrottung geschützt hat. In der zweiten, dass nach Kriegsende eine durchziehende Einheit die Kanone wissentlich in Aligse stehen gelassen hat.
Wenn Ihr wieder mal in Aligse seid, schaut mal vorbei, bei unserer Kanone …