Die Kunst des perfekten Betrugs
Also, ich möchte ja, wenn dann schon richtig belogen werden. Nicht so halbherzig, nicht so durchschaubar, sondern richtig. Mit vollem Einsatz, mit glänzenden Augen und überzeugender Stimme.
Die Art von Lüge, die sich anfühlt wie eine warme Decke im Winter, die man sich umlegt, obwohl man weiß, dass darunter ein Riesen-Pissfleck ist. Ob es gelogen ist, ist mir vollkommen egal.
Ehrlichkeit führt doch höchstens dazu, dass mein sorgfältig über Jahre aufgebauter und gepflegter Selbstbetrug in sich zusammenfällt – und wer will das schon?
Kleine Lügen des Alltags
Wenn ich morgens jemandem auf der Straße begegne, gibt es nur Sympathiepunkte, wenn dieser es schafft, mir ein Kompliment zu machen – obwohl ich aussehe wie eine Wasserleiche.
Die Wahrheit wäre: „Mein Gott, du siehst aus, als hätte dich jemand aus der Mülltonne gezogen.“ Aber nein, stattdessen will ich hören: „Wow, du strahlst heute aber!“ – obwohl das einzige, was strahlt, der Fettfilm auf meiner Stirn ist.
Und wir beide wissen das. Aber ich will es hören. Ich brauche es wie Heroin. Denn ohne diesen Bullshit wäre der Tag schon gelaufen.
Niemand will die Wahrheit wirklich wissen
Niemanden interessiert die Wahrheit wirklich.
Will ein Rentner etwa von seinem Arzt hören, dass er ein Wrack ist? Dass er gesellschaftlich überflüssig, wirtschaftlich ein Klotz am Bein und für das Krankensystem schlichtweg zu teuer ist?
Natürlich nicht. Er will, dass der Arzt ihm ins Gesicht lächelt und sagt: „Frau Schmidt, das wird schon wieder. Nehmen Sie diese Pillen, dann können Sie noch ein paar Jahre leben.“ Ob das stimmt, ist doch vollkommen egal.
Oma geht glücklich nach Hause und wird auch ihren Freundinnen berichten, wie toll der Doktor ist.
Professionelle Lügner – das Fundament der Gesellschaft
Oder nehmen wir Kitty, eine Dame, bei der Service noch großgeschrieben wird, und die dir für einen Fünfziger eine halbe Stunde lang das Gefühl gibt, der beste Hengst zu sein.
Natürlich ist sie gelangweilt, natürlich zählt sie in ihrem Kopf die Minuten, bis du kleines Walross deine tierischen Triebe abgehobelt hast, aber verdammt noch mal – sie verkauft dir den Traum. Sie macht, was die Welt am Laufen hält: Lügen.
Die Art von Lügen, die Menschen dazu bringen, morgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen, anstatt sich einen Stein um den Hals zu binden und damit Schwimmen zu üben.
Ein gut verpackter Schwindel
Wenn du glaubst, dass dein Chef oder deine Chefin das mit dem „Du bist ein wichtiger Mitarbeiter“ ehrlich meint, dann glaub lieber weiter an den Weihnachtsmann. Dein Wert wird nicht in Menschenwürde gemessen, sondern in Stundenlohn und ob du es schaffst, Gewinn oder Verlust zu erwirtschaften.
Und wir verlangen diese Lügen sogar aktiv. Wir jammern herum, wenn wir sie nicht bekommen.
Weißt du, wie man das nennt, wenn man absichtlich belogen werden will auf der Arbeit? Wertschätzung!
„Ich möchte wertgeschätzt werden.“ – das ist nichts anderes als: „Wenn du mich schon ungefragt jeden Tag fic***, dann sag wenigstens, dass du es genießt, damit ich dir dabei noch meinen Arsch hinhalte.“
Die Wahrheit tut weh
Und genau das ist der Punkt: Wir hassen die Wahrheit. Die Wahrheit ist unerträglich.
Die Wahrheit ist, dass dein Partner dich nicht mehr sexy findet, seitdem die Schwerkraft dein neuster bester Freund ist.
Wahrheit ist, dass deine Kinder irgendwann nur noch auf ihr Erbe warten und das ewig gleiche geschwaller von »früher« nicht mehr hören können. Wahrheit ist auch, dass dein bester Freund dich auch nervt, du es ihn aber nur nicht sagst, weil du noch einen Deppen für den Umzug benötigst.
Die Wahrheit ist, dass du nur ein winziges Zahnrad in einer Maschine bist, die sich nicht um dich schert, deinen Namen nicht kennt, die dich ausspuckt, sobald du nicht mehr funktionierst und als Dankeschön nicht mal das Verscharren bezahlt.
Aber das will ja keiner hören. Also belügen wir uns. Wir sagen, dass alles gut wird, obwohl es das nicht wird.
Wir sagen, dass wir glücklich sind, obwohl wir uns mit Drogen, Serien und Ablenkung vollstopfen, damit wir es nicht fühlen.
Lügen uns selbst in den Schlaf, damit wir nicht darüber nachdenken müssen, dass es keinen verdammten Unterschied macht, ob wir existieren oder nicht.
Ehrlichkeit ist kein Geschenk
Und wenn dann doch mal jemand ehrlich ist?
Dann hassen wir ihn. Natürlich hassen wir ihn.
Denn Wahrheit ist kein Geschenk – sie ist ein Dolch, und der kann verdammt wehtun.
So, ich suche mir jetzt Pinocchio, setz mich auf sein Gesicht und lass den Knaben lügen, was das Zeug hält.
Gruß, euer Tim
Achtung: Satire-Text
Quellen:
Fotos: © Ki-Generiert
Text: © Tim Reinhold
Anmerkung der Redaktion: Für bessere Lesbarkeit verzichten wir in unseren Beiträgen weitestgehend auf geschlechtergerechte Sprache. Mehr dazu