Uwe Lockstädt aus Aligse
Ich bin auf dem Weg nach Aligse, in eine Straße unweit der neuen riesigen Aldi-Logistik. Vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag darüber gemacht und bin dabei auf die Seite des Vereins für Dorferhaltung und Umweltschutz e. V. aufmerksam geworden. Die hohe Qualität der Seite hat mich überrascht und so bin ich auf den Macher Uwe Lockstädt gestoßen. Im Internet habe ich nach Beiträgen von ihm geschaut, habe sie gefunden und bin aus dem Lesen nicht mehr herausgekommen. Ab diesem Tag wollte ich den Mann und seine Geschichte unbedingt kennenlernen.
Das neue Leben im Rollstuhl
Trotz meiner Professionalität bin ich tatsächlich aufgeregt, das kenne ich so nicht. Ich parke neben einem Schwerbehindertenparkplatz, der sich vor einem Hausanbau befindet, der auf die Bedürfnisse eines Rollstuhlfahrers ausgerichtet ist. Ich klingle und meine Aufgeregtheit verschwindet umgehend, weil der sympathische und optimistische Uwe mir sofort das Du anbietet. Wir sitzen uns gegenüber. Er Baujahr 1967 im Rollstuhl, ich etwas jünger auf einem Stuhl. Beide haben wir mit 19 unser Leben geträumt und uns darauf gefreut. Bei ihm zerplatzten die Träume am späten Abend des 26. September 1986 auf der A2, unweit von Lehrte.
Kurz zuvor hatte er seine Friseurausbildung abgeschlossen. Meine Frage, wie er denn auf diesen ausgefallenen Berufswunsch gekommen ist, quittiert er mit einem Lachen. Eigentlich wollte er eine Ausbildung bei der Sparkasse machen. Die hatte damals aber 150 Bewerber und nach der Absage war klar, dass er eine Friseurausbildung macht, da seine Eltern einen Friseurladen hatten. Erst wenige Wochen vorher war der talentierte Mittelstürmer von den Hannover96-Amateuren zum TSV Burgdorf gewechselt. Die wollten eine junge Mannschaft aufbauen und setzten sich dafür ein, dass Uwe seine in wenigen Tagen beginnende Bundeswehrzeit in Hannover ableisten konnte.
Ein schrecklicher Unfall, der nie geklärt wird
Am Abend des Unfalls besucht er das Zweitligaspiel zwischen Hannover 96 und Alemannia Aachen. Er ist jung und macht einen Stopp in Altwarmbüchen in der damals so angesagten Diskothek »Rainbow«. Alkohol hat er keinen getrunken. Das Letzte woran er sich erinnern kann, ist ein LKW, den er auf der Autobahn bei Lehrte überholt.
Zur gleichen Zeit wurde der Polizei in gleicher Höhe ein Geisterfahrer gemeldet. Die Polizei kontrolliert den Streckenabschnitt und findet Uwe eher zufällig. Das Auto steht in der verkehrten Richtung zur Fahrbahn. Der lindgrüne Opel Ascona ist völlig zerstört, nachdem er mit der Fahrerseite frontal gegen einen Baum geprallt war.
Das war nicht mal mein Auto, sondern es gehörte meiner Mutter, fügt Uwe an. Die Polizei untersucht den Unfall. Fremde Fahrzeugspuren werden nicht gefunden, ein technischer Defekt am Auto wird ausgeschlossen.
Mit Tempo 160 ist er wohl einige Meter auf dem Grünstreifen neben der Mittelleitplanke gefahren, dann auf die Autobahn zurück und nach einer Vollbremsung von der Fahrbahn abgekommen. War der Geisterfahrer, der nie gefunden wird, Schuld am Unfall? Gab es ihn überhaupt? Hat die Suche nach ihm Uwe das Leben gerettet? Das wird für immer ungelöst bleiben.
Die Rettungskräfte kämpfen um das junge Leben. Einige Zeit vergeht, bis er aus dem demolierten Fahrzeug befreit ist. Uwe ist bei Bewusstsein und erzählt dem anwesenden Arzt, dass seine Eltern im Urlaub sind. Er kommt in die MHH und erleidet zwei Herzstillstände. Die Ärzte sagen, dass er nur überlebt hat, weil er durch den Sport in einer körperlichen Top-Verfassung war. Zwei Tage später wird Uwe mit einem Hubschrauber ins Querschnitt-Gelähmten-Zentrum nach Hamburg geflogen. Er schmunzelt während der Erzählung und sagt, dass er immer gerne mit einem Hubschrauber fliegen wollte. Das passierte nun, aber leider hat er den Flug nicht bei Bewusstsein erlebt.
Wie kämpft man sich in das Leben zurück?
Sein Rückenmark wurde durchtrennt. Uwe ist jetzt querschnittsgelähmt. Acht Monate Behandlung in Hamburg folgen. Was hat er gedacht, als ihm bewusstwird, dass sein Leben von jetzt an im Rollstuhl weiter geht? Ohne zu überlegen hat Uwe die Antwort „Meine Schnürsenkel werde ich mir jetzt wohl nicht mehr alleine zubinden können“. Wir schmunzeln beide. Auch 40 Jahre später ist Hamburg die einzige Anlaufstelle für Querschnittsgelähmte im Norden.
Mentale Herausforderungen ohne psychologische Unterstützung
Psychologen? Nein, die gab es damals nicht. Ärzte und Sozialarbeiter haben sich um den Körper und die gesellschaftlichen Folgen gekümmert. Aber was ist mit dem Kopf? Wie schafft man das? Aus seiner damaligen Gruppe haben das nicht alle geschafft. Fast vorwurfsvoll merkt er an, dass ein anderer, bei weitem nicht so schwer betroffen wie Uwe, den Weg in das Wasser mit seinem Rollstuhl gesucht hat. Sieht Uwe mir meine Traurigkeit an? Er fragt mich, ob ich Kira Grünberg kenne. Ich hatte von der tragischen Geschichte der früheren Stabhochspringerin aus Österreich gehört, die bei einem Trainingsunfall ein ähnliches Schicksal erlitten hatte. Genau wie sie glaubt Uwe, das erst einmal Unfassbare. Sportler werden mit solchen Unfällen schneller fertig, weil sie nicht nur siegen, sondern auch zu verlieren lernen. Kein Sportler wird immer nur gewinnen. Deshalb ist es wichtig, auch mit Niederlagen umzugehen.
Die Rückkehr nach Aligse fällt Uwe schwer, auch weil die Bremsspur des Unfalls noch lange zu sehen war. In Hamburg war er einer von vielen Querschnittsgelähmten. Jetzt im kleinen Heimatort wird ihm bewusst, wie besonders sein Schicksal ist. Als Friseur kann er nicht mehr arbeiten. Weit weg von der Familie, auch das ist auch heute noch so, in Heidelberg im Berufsförderungswerk, wird er für ein neues berufliches Leben vorbereitet. Nach Umschulungen war er als Industriekaufmann tätig, heute erstellt er Internetseiten für Kleinbetriebe.
Hawaii. Wenn Träume nur Erinnerung sind
Ein weiterer Traum verblasst in der Vergangenheit. 1985, ein Jahr vor dem Unfall, macht er eine Reise mit den
96-Junioren und verliebt sich in Hawaii. Tage nach unserem Interview frage ich ihn nach Bildern aus dieser glücklichen Zeit. Ich bekomme eine Vielzahl. Uwe ist 18. Er lacht, er macht Späße. Mit einer Hibiskus-Blüte im Haar sitzt er auf einem Baum auf Hawaii. Nie wieder wird er dorthin zurückkehren. Nie wieder wird er auf einem Baum sitzen.
Fast drei Stunden haben wir miteinander gesprochen, angefüllt mit Emotionen und Geschichten, ein bisschen Traurigkeit bei mir, aber noch viel mehr Optimismus und Lebenswillen. Wir verabschieden uns. Beim Hinausgehen fällt mir auf, dass ich gar kein Foto gemacht habe. Uwe hat mit seiner netten Art für Nähe gesorgt, deshalb sind wir beide auf dem Bild. Und deshalb sage ich auch „Auf Wiedersehen, Uwe“.
Wir sind Menschen, egal ob mit oder ohne Rollstuhl
Nachsatz: Uwe hat es nicht gesagt und nicht gefordert, aber er hat mich zum Nachdenken gebracht.
Nicht wegschauen, im Gegenteil, hinschauen ist wichtig. Auf die Menschen, die ein Handicap haben. Sie wollen und sie brauchen kein Mitleid. Was sie brauchen ist Teilhabe und das so viel wie möglich. So musste eine Ortsratssitzung in Aligse abgesagt werden, weil der Sitzungsort nicht barrierefrei war. Jetzt schauen alle in Lehrte und den Ortsteilen genauer hin, damit das nicht mehr passiert.
Als es kürzlich einen größeren Stromausfall in unserer Stadt gab, machte dies Probleme. Der Fernseher und der PC gingen nicht, das Handy konnte nicht geladen werden.
Was für Probleme. Querschnittsgelähmte schlafen auf Wechseldruckmatratzen. Damit sie nicht wundliegen, werden die einzelnen Hautpartien immer wieder be- und entlastet. Ohne Strom funktioniert das nicht. Das ist zum beispiel ein Problem.
Hinweis zu Suizid:
Wir berichten nur in Ausnahmefällen über das Thema Suizid, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind oder Suizidgedanken haben, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlosen Hotlines 0800/111 0 111, 0800/111 0 222 oder 116 123.
Quellen:
Fotos: © U. Lockstädt / © T. Janus
Interview
Anmerkung der Redaktion: Für bessere Lesbarkeit verzichten wir in unseren Beiträgen weitestgehend auf geschlechtergerechte Sprache. Mehr dazu