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Emil und der Norderstraßengeist

Norderstraße Flensburg

Emil und der norderstraßengeist

Kurzgeschichte von Andrea Hermann

So unverhofft die Nachricht von Onkel Ernestos Ableben Emil auch erreicht hatte, so war für ihn dennoch schnell klar, dass er sein Erbe antreten wollte. Es war der letzte Wink mit dem Zaunpfahl, der ihm für den Beginn einer weitreichenden Veränderung in seinem Leben noch gefehlt hatte. Neben einer beträchtlichen Summe, die auf seinem Konto gutgeschrieben wurde, gehörte ein kleiner Laden für gebrauchten Hausrat und alte Möbel in der Flensburger Norderstraße zur Erbmasse. Sogar eine kleine Wohnung im Obergeschoss gab es da.

Seine wenigen Habseligkeiten aus der kleinen Zweiraum Hochhauswohnung im Ruhrgebiet waren schnell gepackt, noch schneller waren die Wohnung und der alte Job als Fabrikarbeiter gekündigt. An einem kalten Novembermorgen lud Emil seine Umzugskartons in seinen alten VW Bus und trat die Reise an. Während der eintönigen Fahrt auf der Autobahn kreisten seine Gedanken um seinen Onkel Ernesto. Als kleiner Junge war er manchmal mit seinen Eltern bei ihm gewesen, doch daran konnte Emil sich kaum noch erinnern. Später bestand der Kontakt aus gelegentlichem Schriftverkehr. Warum, so fragte er sich nun, hatte sein Onkel gerade ihm alles vermacht? Schließlich lebte seine Mutter, die Onkel Ernestos Schwester war, glücklicherweise auch noch. Was also hatte sein Onkel in ihm gesehen? Diese Frage musste fürs erste unbeantwortet bleiben. 

Nach einigen Stunden Fahrt erreichte Emil die Stadt an der Ostsee. Sein Navigationssystem führte ihn überraschend zuverlässig in die Norderstraße, doch wo er hier parken sollte, war eine ganz andere Frage. Es war alles belegt. Emil überlegte, ob er nochmal um den Block fahren und warten sollte, bis ein Platz für seinen Kleinbus frei wurde. Schließlich war der Hafen ja ganz in der Nähe. Gedacht, getan. Am Hafen gab es eine große Parkfläche, und Emil war es gleich, dass er dafür bezahlen musste. Er stellte den Bus ab und zog einen Parkschein.

Dieser Novembermorgen war hier am Meer von völlig anderer Natur als im Ruhrgebiet. Gespenstisch ragten die Masten der Boote und Schiffe aus dem Nebel, und der Wind pfiff ihm eisig um die Ohren. Doch Emil störte das rauhe Wetter nicht. Er genoss den beeindruckenden Anblick und fühlte sich mit einem mal so frei und unbeschwert wie noch nie in seinem Leben. Der Parkschein war für die nächsten paar Stunden gültig, also schlenderte Emil ein wenig am Hafen entlang und nahm sich die Zeit, in seiner neuen Heimatstadt anzukommen. 

Als er die kühle Herbstluft einatmete und den frischen Wind um die Nase spürte, stand für ihn außer Frage, dass es die richtige Entscheidung war, seinen Lebensmittelpunkt nach Flensburg zu verlegen. Sein Weg führte ihn schließlich weg vom Hafen in eine alte Gasse, in der Emil förmlich das Leben aus den vergangenen Jahrhunderten spüren konnte. Die Häuser waren niedrig und drängten sich Seite an Seite. Wo sicher einmal Fischer und Seeleute mit ihren Familien gelebt hatten, machten es sich heute Menschen gemütlich, die sich eine umfassende Sanierung leisten konnten. Emil ging die Gasse entlang und fand sich zu seiner Überraschung in der Norderstraße wieder. Sein Blick wanderte nach oben und er sah etwas, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Offenbar wurde diese Erscheinung erst nach und nach aus dem Nebel gehoben.

Quer über der Straße verliefen Drahtseile, an denen in langen Reihen Schuhe hingen. Es waren Schuhe jeglicher Couleur. Lackschuhe, Gummistiefel, Turnschuhe, Hauspantoffeln, Stöckelschuhe, Sandalen und Armeestiefel. Emil blieb stehen und ließ diesen Anblick auf sich wirken. Je mehr er sich in die Betrachtung vertiefte, desto mehr kam es ihm vor, als hätte jedes einzelne Paar Schuhe eine eigene Geschichte zu erzählen. Wem mochten sie gehört haben? Und vor allem, wie kamen sie da hin? 

Unentschlossen, wo er nach Antworten auf diese Fragen suchen sollte, zog es Emil zu seiner neuen Wirkungsstätte. Er schloss die Türe des Trödelgeschäftes auf und betrat den Raum. Als er die Türe öffnete, ertönte darüber eine Klingel, was die Stille für einen Augenblick unterbrach. Obwohl er schon lange nicht mehr hier gewesen war und sich nur noch sehr vage erinnern konnte, kam ihm alles hier eigenartig vertraut vor. Der Laden war größer, als es von außen den Anschein hatte. Der Raum war in zwei Bereiche geteilt. Im vorderen Raum waren Regale voller Hausrat. Geschirr und Kochzubehör, vieles davon war in maritimen Stil gehalten. 

Durch eine weitere Türe, ähnlich einem Torbogen, betrat Emil nun den Bereich, der den Möbeln vorbehalten war. Er fröstelte unwillkürlich. Der feuchten, klammen Luft nach zu urteilen war hier seit einiger Zeit nicht mehr geheizt worden. Rasch drehte Emil den Heizkörper auf Stufe drei und machte das Licht an. Dabei kam ihm in den Sinn, dass er Strom und Heizung noch auf seinen Namen anmelden musste. Ein Gegenstand auf einer Sitzbank, auf den ersten Blick nicht definierbar, zog jetzt Emils Aufmerksamkeit auf sich. Er war mit einer dunkelblauen, schweren Decke aus Samt zugedeckt und schien auf ihn zu warten. Er konnte es spüren, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Emil ergriff die Decke und zog sie mit einem Schwung herunter.

Vor Schreck sprang er jetzt aus dem Stand einen halben Meter zurück. Dort saß ein erstarrter Kapitän in Lebensgröße, der seinen durchdringenden Blick direkt auf Emils Gesicht richtete. Emil starrte zurück. Indessen dämmerte ihm, dass er eine lebensechte Skulptur vor sich hatte, keinen lebendigen Menschen. Und doch schien der Kapitän mit ihm Zwiesprache zu halten. Es war nicht viel mehr als ein Lufthauch, der durch den Raum schwebte und ihn wissen ließ: „Du fragst dich, wie die Schuhe auf die Drahtseile über der Norderstraße kommen? Dahinter verbergen sich viele Leben, viele Geschichten, die Schicksale vieler Seeleute und Reisender aus der Nähe und der Ferne … eine Antwort findest du nur beim Norderstraßengeist.“

Wie angewurzelt stand Emil da. Er hätte jeden Eid geschworen, dass diese Worte dem Kapitän zuzuordnen waren. Dass dieser keineswegs so lebendig war, wie er aussah, stand jedoch außer Frage. 
Das Geräusch von Schritten und einem hölzernen Gehstock am Boden hinter sich riss Emil aus seiner Erstarrung. Er fuhr herum. Vor ihm stand eine alte Dame. Sie war von zierlicher Statur und schien hochbetagt zu sein. Es dauerte einen Moment, ehe Emil sich darüber im Klaren war, dass er nun Ladeninhaber war und offenbar eine Kundin vor sich hatte. Dennoch stammelte er, als er sagte: „Ja bitte, Sie wünschen?“ Die alte Dame kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Der kleine Emil Hansen, du bist es wirklich.“

„Kennen wir uns?“, entgegnete Emil überrascht. „Oh entschuldige, du wirst dich natürlich nicht mehr an mich erinnern“, erwiderte die Dame. „Dein Onkel Ernesto hat große Stücke auf dich gehalten, fast noch mehr als auf seine Schwester“, fuhr sie fort. „Alva“, hat er immer zu mir gesagt, „Der Junge kommt so sehr nach der mütterlichen Linie. Er besitzt die Gabe, Dinge zu sehen und zu hören, die anderen auf ewig verborgen bleiben. Ich sehe dich noch heute vor mir, da warst du ein entzückender Junge, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Wenn du erlaubst, würde ich dir gerne etwas zeigen. Oben in der Wohnung.“ „Bitte, nach Ihnen“, sagte Emil höflich und wies mit einer Handbewegung auf die Holztreppe. 

Unter quietschenden und knarzenden Geräuschen stiegen der junge Mann und die alte Dame die Treppe hinauf. Onkel Ernestos Wohnung, die nun in Emils Besitz war, bestand aus einer großen Wohnküche und einem Schlafzimmer, beide Räume hatten gleichermaßen ein Fenster Richtung Straße und jeweils eines mit Blick auf den Hof.  Noch immer lag die Stadt zum größten Teil im Novembernebel, aus der Ferne erklang gespenstisch der Schornstein eines Dampfschiffes.

Die alte Dame namens Alva öffnete eine Schublade des Küchenschrankes. „Sieh nur, dein Onkel hat nicht eins von deinen Bildern weggeworfen“, sagte sie in nostalgischem Tonfall. Sie überreichte Emil einen Stapel Papier. Da sich jemand seinerzeit die Mühe gemacht hatte, auf alle Bilder seinen Namen und das damalige Datum zu schreiben, gab es keinen Zweifel für Emil. Er war der Urheber dieser Zeichnungen. Auch wenn er sich nicht bewusst daran erinnern konnte. Dem Großteil der Bilder maß er keine besondere Bedeutung bei. Er hatte auf eine Art gemalt, wie sie für sein damaliges Alter durchaus nicht ungewöhnlich war.

Doch eine der Zeichnungen zog ihn in ihren Bann. Ein elektrisierendes Gefühl durchströmte ihn. Deutlich konnte er nun sehen, was er vor so langer Zeit schon einmal erblickt hatte, als er an einem Abend bei Onkel Ernesto aus dem Küchenfenster in Richtung Straße sah. Seine Zeichnung erwachte vor seinem inneren Auge zum Leben. Die Gestalt des Kapitäns, der bis heute im hinteren Teil des Ladens saß, war in diesem Moment überhaupt nicht mehr erstarrt. Nein, stattdessen schwebte er wie eine Wolke in Menschengestalt vor Onkel Ernestos Fenster. In diesem Augenblick war Emils Erinnerung auf einen Schlag wieder wach, es gab nicht den leisesten Zweifel: Der lebensechte Kapitän auf der Bank unten im Laden war der Norderstraßengeist! 

In beiden Händen hielt er jeweils drei oder vier Paar Schuhe und war damit beschäftigt, sie auf die gespannten Drahtseile über der Norderstraße zu verteilen. Es war, als hätte er in diesem Augenblick einen sehr alten Freund aus frühester Kindheit wieder getroffen. Es war sonnenklar, dass es sich exakt so zugetragen hatte, wie es auf seiner Kinderzeichnung festgehalten war.

Zugetragen hatte? War die Vergangenheitsform hier wirklich angebracht? „Alva?“, wandte er sich fragend an seine Besucherin. „Ja Emil? Was ist denn?“ „Der Kapitän, diese Figur unten im Laden..“ Weiter kam er nicht, so sehr gruselte ihn dieser Gedanke. Alva jedoch lächelte ihn milde an. „Ja mein lieber Junge, er ist es. Doch sei ganz unbesorgt. Der Norderstraßengeist hat nichts Böses im Sinn. Sein Wirken sorgt bis zum heutigen Tage dafür, dass wir in einer ganz besonderen Straße leben. Durch ihn wird an zahllose Geschichten und Schicksale erinnert, die unsere Stadt und diese Straße in irgendeiner Form berühren. Wie du sicher weißt, steckt hinter jedem Paar Schuhe die Geschichte eines Menschen.“ 

„Der Kapitän soll einen Ehrenplatz bekommen“, sagte Emil spontan. „Wenn der Laden geöffnet ist, soll er vor der Türe sitzen und sein Werk bewundern. Nach Geschäftsschluss bekommt er einen ruhigen Platz zum Ausruhen und Nachdenken.“ „Du bist ein wunderbarer Junge und ein würdiger Nachfolger deines Onkels, ich kannte ihn gut. Nun komm, ich will dir zeigen, wo du deinen VW Bus parken kannst, auf meiner Hofeinfahrt ist Platz genug.“ Die Freundschaft mit Alva war nur der Anfang. Es kamen noch viele weitere dazu, was Emil nicht nur zu einem glücklichen Bewohner dieser ganz besonderen Straße machte, sondern auch zu einem erfolgreichen Ladeninhaber. 

Der Noderstraßengeist ging seiner Berufung ebenfalls weiter nach, was sich bis zum heutigen Tag nicht geändert hat. Was wäre die Nordestraße nur ohne ihn? Wie gut, dass wir nicht ohne ihn auskommen müssen. 


Quellen:
Foto(s): von Jens Junge auf Pixabay