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Noch zehn Minuten; fünf davon die übliche Verspätung. Dann kommt endlich der NRW-Express nach Aachen. Und mit ihm das Ende dieser Geschichte.

Romanautor – Arne Dessaul

Arne Dessaul, Jahrgang 1964, wuchs im Landkreis Wolfenbüttel buchstäblich im Schatten der Wachtürme an der innerdeutschen Grenze auf.

Kurzgeschichte: Auf dem Absprung

Bonn_Hauptbahnhof

Auf dem Absprung

Kurzgeschichte von Arne dessaul

Noch zehn Minuten; fünf davon die übliche Verspätung. Dann kommt endlich der NRW-Express nach Aachen. Und mit ihm das Ende dieser Geschichte.
Wie es sich für einen Montagmorgen gehört, quillt das Gleis 3 am Bochumer Hauptbahnhof praktisch über: schlecht gelaunte Berufspendler, frühe Studenten und laute Schüler. Aus der Raucherecke weht frischer Qualm herüber und von den Nachbargleisen schwer verständliche Lautsprecherdurchsagen.
Die Auslastung des Bahnhofs scheint tatsächlich in Ordnung zu sein. Genau wie es Naumanns Daten andeuten.
Bis der Zug kommt, wird es noch ein bisschen voller werden. Zumal hier, direkt am Treppenaufgang. Wo alle stehen bleiben, weil sie zu faul sind, ein paar Meter weiter auf den Bahnsteig zu laufen, und weil sie sich lieber zusammenpferchen lassen.
Gut so, denkt Naumann – und lächelt.
Naumann sitzt auf der Bank neben dem Wagenstandsanzeiger und betrachtet die Rücken der Wartenden. Beinahe alle tragen Jacken oder Mäntel; der Oktobermorgen ist kühl. Ein paar beige Mäntel sind darunter. Frauen und Männer. Die Frauen interessieren Naumann allerdings nicht.
Zumindest nicht diese Frauen …
Anna hingegen.
Und Florence. Seine einzige schöne Erinnerung an Afrika. Die Frau, die er zurückgewiesen hat. Wegen Anna.

Sein Chef hatte ihn nach Afrika geschickt. Professor Karl Mertens.
„Das Jahr in Uganda wird Ihnen guttun, Naumann. Eine neue Eisenbahnlinie – was für eine herrliche und überaus humane Sache. Anschließend sehen wir weiter mit Ihrer Stelle. Das wird sich dann praktisch von selbst erledigen.“
Mertens, der Bochumer Schienen-Guru, wie Presse und Kollegen ihn ehrfurchtsvoll nennen, der Sanierer und Retter der Deutschen Bahn sowie verschiedener regionaler Verkehrsbetriebe.

Ein Jahr Afrika also. Danach hatte sich allerdings nichts von selbst erledigt. Erledigt war nur Naumann, der ewige Assistent des Professors, dessen Stellen immer nur befristet waren. Der saß ein Jahr später auf der Straße. Ein typischer Fall von #ichbinhanna, wie sich befristet beschäftigte Wissenschaftler aller Geschlechter neuerdings auf Twitter nennen.
Dabei hat Naumann immer alles für seinen Chef getan. Hat die Studenten unterrichtet (damit Mertens es nicht tun musste), hat Forschungsprojekte geleitet (damit Mertens es nicht tun musste) hat Aufsätze geschrieben (damit Mertens es nicht tun musste) – und, aber das nur nebenbei, hat die Masterarbeit von Mertens‘ Lieblingsstudentin Anna und auch Anna selbst betreut (damit Mertens es nicht tun musste?).
Zu guter Letzt leitete Naumann diese große Studie für den Verkehrsverbund Rhein-Ruhr, auch VRR genannt: Auslastung von Zügen, Strecken, Bahnhöfen und so weiter.

Kurz danach flog Naumann nach Uganda, baute ein Schienennetz auf, lernte die französische Ärztin Florence kennen, widerstand äußerst knapp ihrem Charme, kehrte zurück nach Bochum und wurde umgehend zum Chef zitiert.
„Sorry, Naumann, das mit der Entfristung hat nun leider, leider doch nicht geklappt.“
Naumann durfte stattdessen auf der Stelle seine Sachen packen und gehen. Er bewarb sich überall in Deutschland an Lehrstühlen mit Schwerpunkt Verkehr. Kein einziges Mal lud man ihn zum Vorstellungsgespräch ein.
Dann der nächste Schock.
Mertens veröffentlichte die Ergebnisse der VRR-Studie: Naumanns Studie. Doch sein Name tauchte nicht auf. Vor allem aber nicht seine positiven Ergebnisse. Mertens hatte die Zahlen schlicht und ergreifend verändert. Dadurch wurden aus profitablen Strecken und Bahnhöfen auf einmal verlustreiche.
Der VRR sah sich gezwungen zu handeln. Wie viele andere Verkehrsbetriebe zuvor. Man würde einen Experten beauftragen, die Sache in Ordnung zu bringen.
Überraschung: dieser Experte heißt Mertens …
Naumann schrieb Mertens eine Mail, drohte, die Fälschung aufzudecken. Mertens antwortete kühl: „Versuchen Sie es ruhig, Naumann. Niemand wird Ihnen glauben – ohne die Rohdaten. Ihr Ruf wird durch diese Aktion nur weiter leiden.“
Natürlich, der Ruf. Auf den achtet einer wie Mertens höchst penibel. Doch leider hatte er recht: Ohne die Rohdaten konnte Naumann nichts ausrichten. Und die Rohdaten hatte er, blauäugig wie er ist, Mertens gegeben. Nur von den Daten zum Bochumer Bahnhof besaß er Kopien. Reichlich dürftig und bei einem Rechtsstreit garantiert ungenügend. Dennoch hatte Naumann die Daten – digital und als Ausdruck – bei einem Anwalt deponiert.

Naumann zählte eins und eins zusammen: Mertens hatte ihn vorsätzlich nach Afrika geschickt, um in Ruhe die Ergebnisse frisieren und an den VRR schicken zu können. Zuvor hatte der Professor die Rohdaten vernichtet und musste nun nur noch Naumann loswerden. Für jemanden wie Mertens kein Problem.
Auch, dass Naumanns Fähigkeiten auf einmal nicht mehr gefragt waren, dürfte er Mertens und dessen guten Verbindungen zu verdanken haben.
Naumann blieben bloß Gelegenheitsarbeiten für Ingenieure ohne Grenzen oder im Bochumer Eisenbahnmuseum. Der Frust ließ nicht lange auf sich warten. Ständig fluchte und lamentierte und nörgelte und schimpfte er – und verlor so zunächst Anna und bald darauf die teure Wohnung im schönen Ehrenfeld. Er zog ins wesentlich weniger schöne Hofstede. Und er trank.
Dann kamen die Schmerzen. Irgendwo im Magen oder Bauch. Widerwillig ging Naumann zum Arzt und erhielt kurz darauf die niederschmetternde Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Zwar im Frühstadium, doch das Ende war abzusehen. Und ob nun ein Jahr oder zwei oder sieben, was spielte das für eine Rolle?
Schließlich der Abend, an dem er sich nach langer Zeit mal wieder ins Kneipenviertel gewagt hatte, die Kappe tief im Gesicht, dazu die Sonnenbrille. Musste ihn ja niemand erkennen. Aber er erkannte das Pärchen, das sich an einem der Fenstertische im Café Konkret aneinander kuschelte: Mertens – und Anna! Mertens‘ Mantel hing über dem Stuhl.

„Auf Gleis 3 fährt ein …“

Zeit aufzustehen.
Sechs beige Mäntel sind es, um genau zu sein, aber nur in dreien von ihnen stecken Männer. Ganz links steht der Mann, für den Naumann sich interessiert. Der Mann blickt nach rechts, um die Ankunft des Zuges sehen zu können.
Naumann drängelt sich brüsk durch die Menge. Er stellt sich direkt hinter den Mann. Sieht ebenfalls nach rechts. Der Zug fährt ein. Bremsen kreischen.
Aber so schnell kommt der Zug nicht zum Stehen. Er hat noch genug Geschwindigkeit und vor allem: genug Gewicht.

Noch wenige Sekunden.
Jetzt gilt es, alles richtig zu machen. Naumann muss nur laut genug den Namen seines früheren Chefs rufen, damit ihn wenigstens einer der Umstehenden hört und weitersagt. Einer reicht vollkommen.
Letztlich würde auch hier irgendjemand eins und eins zusammenzählen – und Naumanns beim Anwalt deponierte Rohdaten zum Bochumer Bahnhof würden auf einmal in einem anderen Licht erscheinen – und dann wäre der schöne Ruf von Mertens ruiniert. Dazu der frische Verdacht.
Der Zug ist nur noch ein paar Meter entfernt. Hinter der Scheibe zeichnet sich die Silhouette des ahnungslosen Fahrers ab.
Naumann muss schreien, um gegen den ohrenbetäubenden Lärm anzukommen. Er steht nun neben Mertens, sogar ein bisschen vor ihm.
„Nein, Herr Professor Mertens! Hilfe …“
Dann springt Naumann.


Quellen:
Foto(s): von Tohma auf commons.wikimedia.org

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